Deutscher Botschafter in Mazedonien: Historische Fragen nicht politisieren – Interview

Der Deutsche Botschafter in Mazedonien Thomas Gerberich, sprach in einem Interview mit dem mazedonischen Nachrichtendienst MIA über die aktuelle Lage als auch Aussichten in Mazedonien.

Die Zustimmung des Europäischen Rates zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Mazedonien hätte schon vor langer Zeit passieren sollen, meint der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland Gerberich.

Aber im gleichen Atemzug warnt er auch vor der derzeitigen Haltung Bulgariens, wie aus der Aussage des Botschafters abzuleiten ist. Sofia hatte jüngst vehement „Offensive Aktionen“ gegen Mazedonien geführt: Erstmals im Rahmen der EU gegen die Mazedonische Sprache, sowie, eigentlich wie gehabt, gegen die mazedonischen Nationalhelden. Aus Sicht von Bulgarien, ist alles was die mazedonische Geschichte (ab dem Mittelalter) betrifft, als Bulgarisch zu betrachten.

So warnt der Deutsche Botschafter im Interviews davor, historische Fragen zu politisieren die den Beitritt Mazedoniens zur Europäischen Union erschweren:

Dies liegt im Interesse der gesamten EU, insbesondere aber im Interesse der EU-Nachbarländer in der Region. Es wäre jetzt ein Fehler, diesen Erfolg durch Politisierung historischer Fragen zu zerstören. Historische Fragen müssen diskutiert werden und können kontrovers diskutiert werden. Sie gehören jedoch nicht zu den politischen Prozessen, die die Probleme der Gegenwart lösen, und müssen verantwortungsbewusst auf die Zukunft ausgerichtet sein.

Auf die Frage, ob sich der Erweiterungsprozess aufgrund der Pandemie verlangsamen könnte, betonte Botschafter Gerberich, dass dies eine globale Herausforderung ist, der wir uns alle stellen müssen und die derzeit sowohl für die EU als auch für ihre Partner, aber den westlichen Balkan, Priorität hat. Der Erweiterungsprozess steht weiterhin ganz oben auf der EU-Agenda.

Mazedonien hat wie alle westlichen Balkanländer rasch und entschlossen gehandelt und konnte die Infektionsrate senken und die Sterblichkeit niedrig halten. Wie in Deutschland beginnen Politik und Gesellschaft nun, über Ausstiegs- und Erholungsstrategien nachzudenken. Dies ist derzeit natürlich eine Priorität sowohl für die EU als auch für ihre Partner. Aber der westliche Balkan steht ganz oben auf der Agenda der EU, das sind keine leeren Worte, sondern Realität. An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass die Länder des westlichen Balkans für die EU und Deutschland oberste Priorität haben. Die umfassende Unterstützung der EU für die westlichen Balkanländer beim Umgang mit der Pandemie ist ein wesentlicher Beweis dafür: Die EU stellt allein für Mazedonien 66 Millionen Euro zur Verfügung, um den dringenden Bedarf im Gesundheitssektor zu decken, sowie 160 Millionen Euro Makrofinanzhilfe. Damit sendete der Gipfel ein starkes Signal der Solidarität. Gleichzeitig wurde die Beitrittsperspektive der sechs westlichen Balkanländer bestätigt und sie wurden ermutigt, den eingeleiteten Reformpfad zur EU-Mitgliedschaft fortzusetzen, sagte Botschafter Gerberich.

Die Harmonisierung des Verhandlungsrahmens für Mazedonien wird voraussichtlich im Juni beginnen, er sagt jedoch, dass es nicht vorhersehbar ist, wann er abgeschlossen sein wird, da die neue Erweiterungsmethode abgeschlossen sein muss und die Pandemie die Bemühungen in Brüssel verlangsamt.

Die Arbeit am Verhandlungsrahmen wird im Erweiterungsdossier und während der deutschen Ratspräsidentschaft Priorität haben. Es ist wichtig, dass die mazedonische Regierung die Reformen fortsetzt.

Im Bereich der Reformen werde die zentrale Bedeutung die Bereiche Rechtsstaatlichkeit, verantwortungsvolle Regierungsführung und Demokratie haben. Während ihrer Präsidentschaft werden sie sich auf Jugend, Auswanderung und die demografische Situation auf dem westlichen Balkan konzentrieren, die sie Ende Oktober auf einer hochrangigen Konferenz in Berlin abhalten wollen, und weiterhin die regionale Zusammenarbeit unterstützen, was von Bedeutung ist. Auch der Berliner Prozess spielt eine Rolle. Der gemeinsame Gipfel, der im Herbst von Bulgarien und Mazedonien organisiert wird, wird sich auf die Fortschritte auf der digitalen Agenda konzentrieren, insbesondere im Bereich der regionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit.

Folgend das ganze Interview im originalen Wortlaut, übernommen von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Skopje, Mazedonien:

Interview von Botschafter Gerberich für die mazedonische Nachrichtenagentur MIA

Deutschland ist ein starker und nachgewiesener Unterstützer der Republik Nordmazedonien und deren strategischer Ziele in Bezug auf die euroatlantische Integration. Gerade während Ihres dreijährigen Mandats als Botschafter Deutschlands wurde eines der Ziele erreicht – die Mitgliedschaft in der NATO. Im März wurde trotz der Pandemie der Beschluss des Europäischen Rats zum Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der EU getroffen. Dennoch wurde im Protokoll auch die Anmerkung Bulgariens als Meinung eines EU-Mitglieds notiert, wenn auch nicht in den Schlussfolgerungen des Gipfels. Wie kommentieren Sie die Einschätzung eines Teils der Öffentlichkeit in Nordmazedonien, dass nach der Lösung des Namensstreits mit Griechenland ein neues Veto ansteht für die EU-Integration aufgrund der angekündigten bulgarischen Forderungen in Bezug auf Geschichte und Sprache?

In meiner Zeit als deutscher Botschafter seit Sommer 2017 bis heute hatte ich Gelegenheit, mitzuerleben, wie es die Regierung Nordmazedoniens vermocht hat, den Namensstreit mit Griechenland zu klären und den neuen Namen „Republik Nordmazedonien“ in der Verfassung zu verankern, im März 2020 wurde der Beitritt zur NATO vollzogen und ebenfalls im März 2020 entschied der Europäische Rat für einen sofortigen bedingungslosen Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen. Dies sind drei Ereignisse, die man mit gutem Recht als historisch bezeichnen darf. Die Einigung des Europäischen Rats, Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien aufzunehmen, war längst überfällig. Sie liegt im Interesse der EU als Ganzes, insbesondere aber im Interesse der EU-Nachbarstaaten in der Region. Es wäre jetzt ein Fehler, diesen Erfolg durch die Politisierung historischer Befindlichkeiten zunichte zu machen. Historische Fragen müssen besprochen, dürfen auch kontrovers diskutiert werden. Sie gehören aber nicht in politische Prozesse, die Probleme der Gegenwart lösen und verantwortungsvoll in die Zukunft weisen müssen.

Auf dem Zagreber online-Gipfel stand COVID-19 im Mittelpunkt und nicht die Erweiterung. Könnte es zu einer Verzögerung des Beitrittsverhandlungsprozesses wegen der Corona-Krise kommen? Siehe auch Aussage der Kommissionschefin von der Leyen, dass der Erweiterungsprozess aufgrund der Pandemie langsamer vonstattengehen könnte.

Lesetipp: Erklärung von Zagreb birgt weitere Hürden für Mazedonien

Wir alle müssen uns aktuell der globalen Herausforderung des neuen Corona-Virus stellen. Nordmazedonien hat wie auch alle Länder des Westlichen Balkan schnelle und entschlossene Maßnahmen ergriffen und es geschafft, die Infektionsraten zu senken und die Sterblichkeit auf einem niedrigen Niveau zu halten. Wie in Deutschland beginnen nun Politik und Gesellschaft, über Ausstiegs- und Erholungsstrategien nachzudenken.

Dies hat momentan natürlich Priorität, auch für die gesamte EU und deren Partner. Aber der Westbalkan steht ganz oben auf der Tagesordnung der EU – das sind keine leeren Worte, sondern das ist Realität. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich unterstreichen, dass die Länder des Westlichen Balkans für die EU und für Deutschland oberste Priorität haben. Die umfangreiche Corona-Unterstützungsleistung der EU für die Länder des Westlichen Balkan ist dafür ein wichtiger Beweis: So stellt die EU allein für Nordmazedonien 66 Mio. EUR zur Deckung des dringlichen Bedarfs im Gesundheitssektor sowie 160 Mio. EUR als Makrofinanzhilfe zur Verfügung.

Der Gipfel hat damit ein starkes Zeichen der Solidarität gesetzt. Gleichzeitig wurde die Beitrittsperspektive der sechs Westbalkanstaaten bekräftigt und sie ermutigt, den eingeschlagenen Reformweg zur EU-Mitgliedschaft weiter fortzusetzen.

Die Europäische Kommission hat das Mandat zur Erstellung des Verhandlungsrahmens bekommen, in den die Mitgliedsländer Elemente aus ihrer Sicht zum formellen Beginn des Verhandlungsprozesses einbringen. Regierungsvertreter (Osmani und Dimitrov) haben bereits erklärt, dass dieser Rahmen Anfang Juni vorgestellt werden soll und der offizielle Beginn mit der Interregierungskonferenz während der deutschen Präsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte erfolge. Sind diese Erwartungen realistisch?

Die EU wird sich bemühen, den Verhandlungsrahmen schnellst möglichst abzustimmen, die Vorbereitungen des Verhandlungsrahmens werden im Juni beginnen. Derzeit ist allerdings nicht absehbar, wann diese finalisiert werden, da die neue Erweiterungsmethodik nunmehr ausbuchstabiert werden muss und die Corona-Krise die Abläufe in Brüssel auch verzögert. Die Arbeiten am Verhandlungsrahmen werden aber auch zu den Prioritäten im Erweiterungsdossier während der deutschen Ratspräsidentschaft gehören. Wichtig ist, dass die Regierung Nordmazedoniens die Reformen weiterhin fortsetzt.

Wann werden die Prioritäten der deutschen Präsidentschaft vorgestellt und wo steht der Erweiterungsprozess auf der sechsmonatigen Agenda Berlins? Können neue Initiativen in Bezug auf die Intensivierung dieses Prozesses erwartet werden?

Das Programm der deutschen Ratspräsidentschaft sowie das Trio-Programm werden derzeit angesichts der Auswirkungen der Corona-Pandemie nochmals aktualisiert. Für den Bereich der Erweiterungspolitik kann ich aber jetzt schon sagen, dass die Arbeiten am Verhandlungsrahmen mit Nordmazedonien sicherlich zu den zentralen Elementen des Erweiterungsdossiers gehören werden. Dabei werden natürlich Reformen, vor allem im Bereich Rechtsstaatlichkeit, verantwortungsvolle Staatsführung und Demokratie, von zentraler Bedeutung sein. Wir beabsichtigen auch, während unserer Präsidentschaft das Thema Jugend, Auswanderung und die demografische Situation in den Ländern des Westlichen Balkan zu bearbeiten. Wir planen, Ende Oktober eine hochrangige Konferenz in Berlin zu organisieren, um einen Dialog aufzunehmen, um die Gründe für die Auswanderung genauer zu untersuchen und Strategien zu entwickeln, wie das Problem auf eine für beide Seiten vorteilhafte Weise behandelt werden kann.

Deutschland engagiert sich auch weiterhin für die Unterstützung der regionalen Zusammenarbeit. Die Corona-Krise hat es noch deutlicher gemacht: Die regionale Zusammenarbeit zwischen den Westlichen Balkan-Sechs ist entscheidend, um die bestehenden Herausforderungen zu bewältigen. Der Berliner Prozess spielt in dieser Hinsicht weiterhin eine wichtige Rolle, und wir freuen uns auf den von Bulgarien und Nordmazedonien gemeinsam organisierten Gipfel im Herbst, auf dem wir auf der digitalen Agenda Fortschritte insbesondere im Bereich der regionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit erzielen wollen.

Am 9. Mai begingen wir den Europatag zu Zeiten multidimensionaler Herausforderungen für die EU – die Auseinandersetzung mit der Corona-Krise und deren Auswirkungen auf die Wirtschaft, Brexit, Flüchtlingskrise, Verteidigungssystem der EU und Stärkung der Union. Dies ist ein Teil der Themen, zu denen auf der Konferenz zur Zukunft Europas Antworten gesucht werden, welche in den kommenden zwei Jahren als Forum für die Vernetzung der europäischen Bürger, der Zivilgesellschaft und der europäischen Institutionen dienen soll. Welches sind die deutschen Ansichten zur Zukunft Europas und sind die Stimmen аuch der Westbalkan-Länder als künftige Mitgliedsstaaten erforderlich?

Die Corona-Krise hat uns allen mit großer Deutlichkeit vor Augen geführt, von welch großer zentraler Bedeutung für alle Länder die europäische und internationale Solidarität ist. Dabei legen die EU und Deutschland besonderen Wert auf die westliche Balkanregion sowie auf die Länder der östlichen Nachbarschaft. Wir alle müssen uns den globalen Herausforderungen der Gegenwart stellen – das betrifft nicht nur den neuen Corona-Virus sondern so essentielle Fragen wie die Herausforderungen durch den Klimawandel, weltweite Migrationsbewegungen oder die Bewältigung lokaler Konflikte. Nordmazedonien und alle Länder des Westlichen Balkan haben schnelle und entschlossene Maßnahmen ergriffen und es geschafft, die Corona-Krise zu bewältigen und nun über Ausstiegs- und Erholungsstrategien nachzudenken. Lassen Sie uns diese Strategien gemeinsam auch auf andere wichtige regionale und globale Herausforderungen anwenden.

Zum Ende Ihres Mandats: Was empfehlen Sie dem Land hinsichtlich der EU-Integration und seiner weiteren Perspektiven?

Ganz klar: Konsequente Fortsetzung des Weges der euro-atlantischen Integration auf der Basis des bisher Erreichten. Umsetzung der begonnenen Reformen mit dem Ziel, eine demokratische und auf rechtsstaatlichen Prinzipen beruhende Gesellschaft zu schaffen, die allen Bürgern Nordmazedoniens, vor allem den Kindern und Jugendlichen, eine sichere Zukunft in Frieden und Freiheit bietet.

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